Wahlkampf in der U6
Was zählt sind Wahrnehmungen, nicht die Wirklichkeit. Und nachdem wir oft genug mit der U6 gefahren sind, gehen wir wählen: So geht Wahlkampf ohne Politik. So verliert man Wahlen. Nicht nur die. (Und – *edit edit edit* – das Problem an der U6 und Wien fest zu machen, ist zu einfach: Verloren, verraten und vergessen fühlen sich die „einfachen Leute“ nämlich auch anderswo. Sogar in Tirol. Man muss nur hinschauen. – *Edit-Ende*)
Am Weg zum Schwimmtraining. Ins Stadthallenbad. Morgens. Feiertag.
Vor mir ein Paar, beide Anfang bis Mitte 30. Optisch der Typ Lehrer. Sozialarbeiter. Büchermenschen. Er hält die Schwingtür in die Station auf, damit sie mir nicht ins Gesicht knallt. Ein Detail. Fällt auf. Mir. Hier. Schauplatz? U6. Station Gumpendorferstraße.
Ringsum das Übliche. Ich schaue weg. Auf den Boden. Durch die Leute. Tue, als sähe ich Dealer, Dreck, Scherben, Lachen am Boden und Junkies nicht. Rede meiner Nase ein, nichts zu riechen. Bemühe mich, nicht zu bemerken, was da von Hand zu Hand gereicht geht. Sehe die drei nicht einmal 16-jährigen Mädchen, die durch den Mix aus Drogen, Übermüdung und Elend einer zu langen Nacht (und vieler davor) kaum stehen können, nicht. Höre den vierschrötigen Mit-Dreissiger mit fast ebenso elendem Auftreten nicht, der die Mädchen anfährt. Dass die sich beim Anschaffen halt mehr anstrengen müssten. Und ignoriere es. Feig? Ja. Aber: Nichts, was ich ändern könnte. Nicht, ohne mich selbst zur Zielscheibe zu machen. Und es würde Nichts ändern.
Wegschauen. Ignorieren. Drübersteigen.
Die anderen „Normalos“ halten es genauso. Gehen vorbei. Blick abgewandt. Augen aufs Smartphone. Man ignoriert die Bettlerin mit dem verdreckten Kind am Boden im Stiegenaufgang. Steigt drüber.
Im Zug. Das Paar von vorhin neben mir. An der Tür wird gedealt. Offen: Die beiden Hauptprotagonisten sind zu zugedröhnt, um ihre Umwelt zu bemerken. Einer hat die Zigarette beim Einsteigen in den Waggon an der Innenseite des Zuges abgedämpft und hinters Ohr gesteckt. Der andere raucht weiter und hat die offene Bierdose in der Hand, schwankt. Immer wieder schwappt Flüssigkeit aus der blauen Dose. Man hält Abstand. Will nicht anstreifen. Aber dass da Ware gegen Geld getauscht wird, bekäme man auch mit, wenn die beiden nicht brüllen würden. Auch, dass der Typ mit dem Mastiff an der Leine und dem Beisskorb am Rucksack dazu gehört. Er hat den Waggon im Auge. Osteuropäischer Typ. Nicht unter Drogen. Körperbau, Köpersprache und Haltung zeigen, dass er weiß, wie man anderen rasch und effizient das Hinschauen oder Fragenstellen abstellt. Und selbst nicht fragt.
Die Frau des Türaufhalterpaares dreht sich zu mir: „Ich weiss wer du bist. Dass Du denkst und wählst wie wir. Aber: Jedes Mal, wenn ich hier vorbeikomme und das hier sehe, sehen muss, wie sie Plätze besetzen und jeden, der nicht wegschaut, aggressiv angehen, bin ich näher dran, anders zu wählen. Ich ertrage es nicht mehr: Dieses Wegschauen und Schönreden. Die Weichspülrhethorik unserer Politiker – und ich meine unsere Seite: Das halte ich nimmer aus. Weil jeder sieht, was hier los ist. Was passiert. Und schlimmer: Weil man es spürt.“
Die Frau spricht leise. „Die Faschos, die Hofers, die Straches und Kickls: Sie haben keine Antworten, die die Ursachen bekämpfen würden. Aber sie ignorieren zumindest die Symptome nicht. Und wollen uns auch nicht einreden, dass eh alles passt.“
Ich schaue die beiden fragend an. „Was ich sagen will? Ich weiss, ich sollte van der Bellen wählen. Aber jede Fahrt mit der U6 ist ein Argument dagegen. Und wir fahren hier jeden Tag. So wie alle hier. Du scheinbar nicht. Das sieht man in Deinem Gesicht. Du bist noch entsetzt.“
Ich nicke. Sage „trotzdem, das wäre und ist keine Antwort. Und schon gar keine Lösung.“
Grüße und gehe zur Tür: Burggasse. Stadthalle.
„Du sagen – und Hund bei dir.“
Während der Zug in die Station fährt, schaue ich zu den Beiden zurück. Und dem Aufpasser mit dem beisskorblosen Kampfhund kurz in die Augen. Versehentlich. Er zischt mich an: „Problem? Du nur sagen – und Hund bei dir.“ Ich ziehe den Kopf ein.
Draussen. Die Frau winkt mir nach. Zuckt mit den Schultern. „Noch Fragen?“ sagt ihr Blick.
Nach dem Training. Umkleidebereich. Einer aus der Gruppe erzählt. Er ist in Flüchtlings- und Hilfsinitiativen aktiv. Mit der U6 fährt er normalerweise so oft wie ich: Nie. Heute doch. „Wenn du bei der Thaliastraße einsteigst und da stehen zehn Schwarzafrikaner und jeder sieht sofort, was sie tun, dann gehen uns irgendwann die Argumente aus“, sagt er.
Am Heimweg. Eine Freundin steht im Zug neben mir. Ich erzähle die Geschichte vom Hiweg. Sie seufzt: „Wem erzählst du das. Das ist doch mein täglicher Weg von und zur Arbeit. Als Frau noch schlimmer. Da kommt noch Einiges dazu. Deshalb fahre ich hier nicht mehr. Ich nehme das Auto – obwohl das grotesk ist.“ Sie arbeitet oft spät – aber das, sagt sie, sei es nicht: „Ich bin kein ängstlicher Typ. Trotzdem: Es ist diese Stimmung. Dieses Gefühl, allein gelassen zu sein. Und ständig belogen zu werden – obwohl jeder sieht, was hier passiert. Und wohin es geht.“
Ich frage. Sie schüttelt den Kopf: „Nein, mir ist noch nie etwas passiert. Aber darum geht es nicht. Es geht um Wahrnehmung. Um ein Gefühl – und daraus entsteht dann das, was wir Wirklichkeit nennen. Und dann gehen wir wählen.“